Fünf Tage, nachdem ich Rinpoche in Berlin verabschiedet habe, treffe ich den nächsten hohen nepalesischen Lama – diesmal am bayerischen Schliersee…

Am Samstag, dem 14. September, habe ich Rinpoche, nach seinem Teaching bei uns in der Spirituellen WG, am Berliner Flughafen verabschiedet. https://www.water-runs-east.eu/retreat/

Am Donnerstag, dem 19. September, schleppe ich früh am Morgen meinen Koffer die Treppen der Spirituellen WG hinunter. Der Trecking-Rucksack, den ich auf dem Rücken trage, ist bis oben hin voll.

Auf den Stufen breche ich beinahe unter dem Gewicht zusammen.

Den ratternden Koffer hinter mir herziehend, eile ich zur S-Bahnhaltestelle Schönhauser Allee. Um kurz nach acht Uhr geht der ICE vom Hauptbahnhof.

Ich bin auf dem Weg zum nächsten Teaching.

Die Veranstaltung ist so privat wie hochkarätig.

Dass ich – als kleine unbedeutende und unerfahrene Laien-Praktizierende – dazu eingeladen wurde, verdanke ich der Tatsache, dass ich letzte Woche „meinen“ Rinpoche zu Besuch hatte. https://www.water-runs-east.eu/rinpoche/

Der hat bei dieser Gelegenheit einige Ritualgegenstände aus Nepal für eine Dharma-Schwester aus Bayern bei mir zurückglassen, mit der wir beide befreundet sind.

Eigentlich war vereinbart, dass die Dharma-Schwester die große Tüte während ihres nächsten Besuchs in Berlin bei mir abholen wird.

Nun hat es sich aber so ergeben, dass völlig überraschend im Wohnzimmer dieser Dharma-Schwester ein Teaching stattfinden wird. „Sie ist dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kind“, pflegt man in meiner bayerischen Heimat zu sagen.

Genau dort wird auch das Teaching stattfinden: nur zehn Kilometer von meinem Geburtsort entfernt, im Landkreis Rosenheim.

Ich bin also an diesem Donnerstagmorgen „back to the roots“. Denn die Dharma-Schwester braucht für das überraschende Teaching ganz dringend die schwere Tüte von Rinpoche.

So kommt es, dass ich – nur fünf Tage, nachdem ich Norbu Rinpoche verabschiedet habe – auf den nächsten Rinpoche treffe.

Die Dharma-Schwester holt mich vom Regionalbahnhof ab. Gemeinsam wuchten wir meinen schweren Koffer in ihr Auto. Mit einem erleichterten Seufzer lade ich auch noch meinen prall gefüllten Rucksack darin ab.

Dann machen wir uns zu Fuß auf die Suche nach Khandro-La. Denn meine amerikanische Khandro ist extra für das Teaching aus den USA nach Deutschland gekommen! https://www.water-runs-east.eu/zuflucht/

Nachdem wir Khandro-La und ihren Lebensgefährten am Ufer des Schliersees entdeckt haben, laufen wir zu viert zur Ferienwohnung, die die Dharma-Schwester für den – uns allen nicht persönlich bekannten – Rinpoche gebucht hat.

Der ist nicht einfach nur ein anerkannter wiedergeborener hoher Lama – die Bedeutung von „Rinpoche“ – sondern gleichzeitig auch noch Hauptlinienhalter einer Traditionslinie der tibetisch-buddhistischen Nyingma-Schule und Abt eines nepalesischen Klosters.

Während wir im Wohnzimmer der Ferienwohnung auf die Ankunft des Linienhalters warten, habe ich Gelegenheit, meiner Khandro Fragen zu stellen. Sie ist erkennbar nicht begeistert davon – sie ist im Urlaub – lässt sich aber dann doch darauf ein.

Ein Anruf unterbricht unser Gespräch. Der Mann, der Rinpoche vom Münchner Flughafen abgeholt hat, teilt uns mit, dass der Linienhalter in zehn Minuten vor der Tür stehen wird.

Wir ziehen Schuhe und Jacken an und reihen uns auf dem Parkplatz vor der Ferienwohnung auf. Ganz vorne steht die Khandro, gefolgt von ihrem Lebensgefährten. Neben ihm hat sich die Dharma-Schwester postiert. Ich bilde das Schlusslicht.

Jeder von uns hat einen weißen Schal – einen Katak – und einen Briefumschlag in der Hand. Darin: Zwei Geldscheine für den Linienhalter. Denn die Zahl eins bringe Unglück, erklärte uns die Khandro, als wir im Wohnzimmer die Umschläge füllten.

Nun stehen wir fröstelnd auf dem Parkplatz und halten nach einem schwarzen Mercedes Ausschau. Über uns ragt der Wendelstein empor, sein imposanter Gipfel ist mit Schnee bedeckt. In den letzten Tagen hat es bis ins Tal hinunter geschneit.

Während wir warten, erzählt uns die Khandro, dass der Linienhalter in Nepal immer in einer Prozession das Haus verlässt. Vor ihm geht einer, der ein Weihrauch-Fass schwenkt, vier andere tragen den Baldachin. Passanten werfen sich bei seinem Anblick zu Boden.

Im Vergleich dazu muss dem Linienhalter der Empfang vor der Ferienwohnung am Schliersee mehr als bescheiden erscheinen: Vier verfrorene Westler, die ihm mit tiefer Verbeugung Katak und Umschlag entgegenstrecken.

Er begrüßt jeden von uns herzlich, legt mit strahlendem Lächeln Katak um Katak um die Hälse, drückt seine Stirn an die unsere und verschwindet nach ein paar freundlichen Worten an die Khandro zusammen mit seiner Frau in der Ferienwohnung.

Nachdem wir Khandro-La und ihren Lebensgefährten im Haus der Dharma-Schwester abgeladen haben, fährt die mich in meine Ferienwohnung. Der Bauernhof, in dem sich die Ferienwohnung befindet, liegt in einem winzigen Weiler oberhalb des Dorfes der Dharma-Schwester. Morgen werde ich zu Fuß zu ihr laufen. Ich freue mich schon darauf.

Abends, im fremden Bett in der unbekannten Wohnung, umgeben vom aus der Kindheit vertrauten Geruch nach Heu und Kuhstall, siniere ich über mein Leben.

Dass ich heute in dem katholischen oberbayerischen Landkreis, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, dem Hauptlinienhalter der Geluk-Tradition der Dudjom-Tersar-Linie des tibetischen Nyingma-Buddhismus vorgestellt wurde, ist mehr als schräg.

„There is no such thing as an accident“, denke ich beim Einschlafen.