Ich lerne die Tantra-Praxis der Grünen Tara kennen und bekomme eine perfekte Meditation im Paradies geschenkt.

Nach dem Riwo Sangchö machen wir Pause. Ich habe gerade eine Dreiviertelstunde im Lotossitz hinter mir und gleich wird es weiter gehen: in der „Kurzvariante für Westler“ – hat mir Suriyel erklärt – dauert die Grüne Tara etwa eine Stunde. Ohne Unterbrechung zwei Praktiken schmerzfrei in Meditationshaltung durchzusitzen, ist uns beiden nicht gegeben. Ich hüpfe auf der Terrasse herum und lockere meine Muskulatur wie ein Sprinter kurz vor dem Startschuss zum Hundert-Meter-Lauf. Auch stilles Meditieren kann eine sportliche Herausforderung sein.

Suriyel holt währenddessen die große weiße Muschel aus der Küche, stellt sich an den Weiher und bläst hinein, dass es nur so dröhnt. Es soll kein Wesen, Geist, Gnom, Wolf, Luchs, Gott – oder was auch immer am Retreathaus lebt – sagen können, es oder er hätte nichts davon gewusst, dass hier und jetzt die Praxis der Grünen Tara dargeboten wird.

Ich habe noch nie eine „Tara-Praxis“ erlebt. Dabei ist sie populär: Suriyel ist nicht das einzige Mitglied unserer Sangha, der seine Hauptmeditation dem weiblichen Buddha Tara widmet.

Der Legende nach inkarnierte einst ein Bodhisattva im Körper der Prinzessin Tara. Sie widmete ihr Leben der Befreiung aller leidenden Wesen, um für diese und sich selbst Erleuchtung zu erlangen. Ein Mönch machte sich über sie lustig: als Frau könne sie sich noch so anstrengen, Erleuchtung gäbe es trotzdem keine für sie. Aber wenn sie sich weiterhin so verausgabe, würde ihr im nächsten Leben zumindest eine Wiedergeburt als Mann geschenkt werden, in dessen Körper sie dann erleuchtet werden könne. Daraufhin schwor Tara, von nun an nur noch in weiblichen Körpern zu inkarnieren und in dieser Form die Erleuchtung zu erlangen.

Sie gilt als „Mutter der Befreiung“ und ist eine Inspiration für männliche wie weibliche Praktizierende.

Tara wird in einundzwanzig verschiedenen Aspekten verehrt, für die es jeweils eigene Meditationspraktiken gibt. Die „Weiße Tara“ steht für ein langes Leben. Wer die „Rote Tara“ erfolgreich praktiziert, zieht auf magnetische Weise hilfreiche Wesen an. Die „Gelbe Tara“ vermehrt Gutes, die Praxis der „Blauen Tara“ beseitigt Hindernisse…

Suriyels „grüne Tara“ ist die „Hauptform“ in der alle anderen einundzwanzig Emanationen enthalten sind. Sie repräsentiert den aktiven Aspekt des Mitgefühls und eilt herbei, wenn jemand in Not ist.

Unsere Pause ist vorbei. Suriyel bringt die Muschel auf ihren Platz in der Küche zurück, zündet ein frisches Räucherstäbchen auf dem kleinen Schreintisch an und legt sich den Text bereit. Ich setze mich neben ihn auf die Bank, die Beine übereinandergeschlagen, und freue mich, dass nichts von mir erwartet wird. Ich kann – ohne Text – nicht mal mitlesen. Das stört mich kein bisschen, einfach nur DA-Sein zu dürfen, ist auch eine schöne Sache. Und noch dazu an einem so wunderbaren Tag wie diesem.

Suriyel rezitiert und singt auf Tibetisch, ich sitze still daneben und höre ihm zu, während der Wind mit meinen Haaren spielt. Die warme Frühlingssonne lässt alles leuchten. Der Duft des Räucherstäbchens mischt sich mit den vielfältigen Gerüchen der erwachenden Natur. Hinter uns rauscht der Bach die Hauswand entlang, vor uns singen die Vögel in den Obstbäumen, auf dem Weiher neben der Terrasse quaken ein paar Enten.

Während Suriyel praktiziert, wird es stiller und stiller um uns. Es ist diese spezielle Qualität von Stille, die greifbar wird, wenn der Geist in der Meditation vollkommend zur Ruhe kommt. Ich spüre, wie alles in mir zu fließen beginnt. Es fühlt sich an, als würde ich mich auflösen. Zu meinem Erstaunen kommen mir die Tränen: etwas – von dem ich nicht sagen kann, was es ist – berührt mich zutiefst.

Suriyel rezitiert und singt, ich sitze und atme – eine Stunde lang. Als er den letzten Textstreifen zurücklegt, fällt es mir schwer, diesen Zustand vollkommenen Friedens wieder zu verlassen. Wir bedanken uns beieinander: was hatten wir doch für eine schöne Praxis! Und auch noch an einem so wunderbaren Ort!

Und damit ist unser Vajrayana-Wochenende beendet…