Am Tag nach der Einweihung des Pema Choling praktizieren wir das Ritual „Sur“ für den verstorbenen Vorbesitzer des historischen Pfarrhofs…

Anfang Juni ziehe ich in den historischen Pfarrhof von Dewitz. https://www.water-runs-east.eu/einzug/

Überwältigt, überfordert – aber auch erleichtert und dankbar für die schöne sanierte Wohnung im Erdgeschoss des Haupthauses.

Meine zukünftig Wohnung hat drei Zimmer, ein großzügiges Bad – und eine hübschen kleinen Küche im Landhausstil.

Den Küchentisch hat der Entrümpler mitgenommen. https://www.water-runs-east.eu/entruempler/

Aber das Geschirr aus blauem Glas, Töpfe und Besteck hat er zurückgelassen. Und auch noch sonst so einiges andere, was er nicht gebrauchen konnte. Angebrochene Ketchup- und Grillsoßenflaschen im Kühlschrank zum Beispiel.

Während Suriyel versucht, das Heizungssystem ans Laufen zu bringen, gehe ich Schublade für Schublade durch. https://www.water-runs-east.eu/heizung/

Im Hängeschrank über dem Herd stapeln sich Gewürzdöschen. Ich finde eine Gewürzmischung für saure Gurken und eine andere extra für Pommes.

Was es nicht alles gibt!

Im Ausziehschrank neben dem Kühlschrank Schlaf- und Beruhigungstees. Mehrere Packungen. Im Hängeschrank daneben pflanzliche Beruhigungstropfen.

Es ist ein seltsames Gefühl, plötzlich mit dem vergangenen Leben eines unbekannten Menschen konfrontiert zu sein.

Von dem wir nur wissen, dass er „Frank“ hieß. Und den Nachnamen. Denn so steht es immer noch am Briefkasten und am Klingelschild.

Der Makler, der den Kauf abwickelte, wusste auch nicht viel mehr. Die Erben hatten ihm den Auftrag erteilt, den Pfarrhof zu verkaufen. Frank war unverheiratet und kinderlos gestorben.

Ich gehe die Schubladen durch. Besteck, Kochlöffel, Dosenöffner.

Der Inhalt der letzten Schublade lässt sich nicht exakt zuordnen. Ich ziehe Müllbeutel, Teelichter, einen Schraubenzieher und ein kaputtes Feuerzeug heraus.

Außerdem einen Packen Plastikkarten. Ich sortiere sie durch: eine Tankkarte, eine Rabattkarte des örtlichen Discounters, die Visitenkarte eines Fensterbauers – und ein Führerschein!

Franks Führerschein!

Mit ernstem Blick schaut mir ein Mann mittleren Alters mit Halbglatze und hängenden Mundwinkeln entgegen.

Das also war Frank!

Ich drehe den Führerschein um. Frank war ziemlich genau mein und Suriyels Jahrgang, stelle ich fest.

Und er hätte in wenigen Wochen Geburtstag gehabt!

Als Suriyel in die Küche kommt um zu überprüfen, ob der Heizkörper warm wird, halte ich ihm Franks Führerschein entgegen.

„Schau, was ich gefunden habe!“

Suriyel dreht den Führerschein in den Händen und betrachtet konzentriert Franks Foto. Er ist genauso berührt wie ich.

„Warum ist der Führerschein noch da? Wollten die Erben den nicht haben?“

„Ich glaube nicht. Sonst hätten die den Führerschein doch mitgenommen.“

Ich zeige auf das Geburtsdatum. „Schau mal. Franks Geburtstag ist nach dem Wochenende, an dem Rinpoche kommt. Wir könnten Rinpoche fragen, ob wir an seinem Geburtstag eine Praxis für Frank machen sollen?“

Das, findet Suriyel, ist eine ausgezeichnete Idee.

Ich lege Franks Führerschein zurück in die Schublade.

Am Tag nach der Einweihung des Pema Choling hole ich den Führerschein von Frank wieder heraus.

Rinpoche wird uns am Abend verlassen.

Nach dem Frühstück zeige ich Rinpoche den Führerschein. „Look Rinpoche, this is the late owner of Pema Choling. He died two years ago. Tomorrow would be his birthday. Can Suriyel and I do a practice for him at his birthday? Maybe Chenrezig?“

Auch Rinpoche betrachtet eingehend Franks Foto. Dann schüttelt er den Kopf.

„No. Not Chenrezig. And not on his birthday. It would bind him to you and to the place. He has to move on. We will do a Sur for him. Today.“

Das, finde ich, ist eine kluge Entscheidung von Rinpoche.

Gleichzeitig bestätigt Rinpoches Antwort meine eigene Einschätzung: Frank hat den historischen Pfarrhof nicht verlassen. Obwohl er bereits vor zwei Jahren gestorben ist.

Eigentlich – so lehrt es der Buddhismus – vergehen zwischen dem Tod eines Lebewesens und seiner Wiedergeburt höchstens 49 Tage.

Aber der Weg aus dem Bardo – dem Reich zwischen Leben und Tod – in ein neues Leben ist ein komplexer und störanfälliger Prozess. Manch einer geht darin verloren.

Mir kommt es so vor, als wäre das auch bei Frank der Fall. Dieses Gefühl, er wäre noch da – unsichtbar, aber energetisch spürbar – begleitet mich durch meine ersten Wochen im historischen Pfarrhof.

Rinpoche scheint es nicht anders zu ergehen.

Deshalb also Sur.

Die Praxis, die Verstorbene in einer Weise nährt, dass ihnen eine gute Wiedergeburt möglich ist.

Am Vormittag versammeln sich alle Gäste im Pavillon.

In einem tragbaren Räuchergefäß bereitet Rinpoche sorgfältig das Rauchopfer für Frank vor.

Dann nimmt er auf dem grünen Samtsessel Platz und führt uns durch die Praxis.

Die einführenden Gebete, Zufluchtnahme, Bodhichitta, schließlich die Transformation der Opfergabe.

Rinpoche nimmt das Schälchen mit dem Sur-Powder und kippt es über die glühende Kohle im Räuchergefäß. Eine schmale Rauchsäule steigt auf.

Er winkt Suriyel zu sich und drückt ihm das qualmende Räuchergefäß und einen Feder-Fächer in die Hand. „Carry it through the house.“

Ich springe auf und folge Suriyel, der mit großen Schritten aus dem Pavillon eilt und das Haupthaus betritt.

Gemeinsam wandern wir von Zimmer zu Zimmer. Suriyel voran, ich hinter ihm her. Beide rezitieren wir ein Mantra. In jedem Zimmer schreitet Suriel von Ecke zu Ecke, während er mit dem Feder-Fächer den Rauch der verbrennenden Opfergabe verteilt.

Nach zwanzig Minuten sind wir wieder zurück im Pavillon. Dort haben während unserer Abwesenheit Rinpoche und die Sangha ebenfalls ein Mantra rezitiert.

Für Frank.

Der jetzt hoffentlich gehen kann. In eine gute neue Wiedergeburt.

Suriyel stellt das Räuchergefäß, in dem immer noch Kohle glüht, vor Rinpoche auf dem Boden. Dann lässt er sich – wie ich – auf dem Meditationskissen nieder.

Auf einmal ruft einer der Dharma-Brüder, der einen Sitzplatz mit Blick auf den Weiher hat, laut auf: „Da! Eine Wasserschlange!“

Wie am Vortag springen alle auf und versuchen, einen Blick auf den Weiher und die Schlange zu erhaschen. https://www.water-runs-east.eu/wasserschlange/

Wieder bin ich zu langsam. Als ich einen Blick durch das Fenster werfen kann, ist die Schlange bereits im Ufergebüsch verschwunden. Genau wie gestern.

„Die war deutlich kleiner, als die von gestern!“, merkt einer aus der Gruppe an, der mehr Glück hatte.

„Die Wasserschlange gestern war der Naga-König. Und das heute war die Naga-Königin!“, erklärt ein anderer mit großer Bestimmtheit.

Rinpoche schweigt dazu. Er macht einen zufriedenen Eindruck.

Das Sur scheint funktioniert zu haben…