Das sonntägliche Rauchopfer im tibetisch-buddhistischen Zentrum von Friedrichshain bekommt spontan eine protestantische Note…

Um dreizehn Uhr sind wir mit der „Grünen Tara“ – dem ersten Teil unserer wöchentlichen Sonntagspraxis – durch. https://www.water-runs-east.eu/gruene-tara/
Wie immer haben wir knapp zwei Stunden dafür gebraucht. Denn wir praktizieren die Grüne Tara in der langen tibetischen „Tempel-Version“ und nicht in der – im Westen üblichen – verkürzten Weise.
Trotz der Länge und Komplexität unserer Praxis – und der Tatsache, dass es im ungeheizten Tempel des tibetisch-buddhistischen Zentrums von Friedrichshain im Winter ungemütlich kalt ist – haben sich heute wieder dreizehn Leute eingefunden, um gemeinsam zu rezitieren, zu singen und zu meditieren.
Nachdem wir fertig sind, versichern wir uns gegenseitig, was wir doch wieder einmal für eine schöne gemeinsame Praxis hatten! Danach flüchten die anderen in die gemütliche Teestube des Zentrums, in der die Heizkörper glühen.
Israfel und ich machen einen Abstecher in die Küche, die sich in einem Nebengebäude befindet. Wir wärmen die Gemüsesuppe mit den bayerischen Semmelknödeln auf, die wir beide gestern fabriziert haben. https://www.water-runs-east.eu/hausmannskost/
Als in der Teestube alle vor ihren dampfenden Tellern sitzen, breitet sich Schweigen über dem Tisch aus. Wir falten die Hände, Suriyel spricht das kurze tibetische Tischgebet.
Während der Mahlzeit diskutieren wir das anstehende Programm. Suryiel möchte ein „kleines“ Rauchopfer in einer Schale machen, anstelle des üblichen Feuers auf der Terrasse. Zu Schulungszwecken. Er hat – erklärt er uns – eine neue unkomplizierte Methode entdeckt, den Instant-Powder ohne Räucherkohle zu opfern. Die möchte er heute präsentieren. https://www.water-runs-east.eu/do-it-yourself-sang-pulver/
Kurz überlege ich, ob Akzeptanz angemessen ist – oder Widerspruch?
„Widerspruch!“, befiehlt mir meine intuitive Innere Stimme.
„Ach komm, Suriyel!“, rufe ich deshalb aus. „Mach ein Feuer! Bitte!“
„Ich mache doch ein Feuer! Ein ganz kleines!“, kommt es zurück.
„Du weißt genau was ich meine! Ich möchte ein großes! In der Feuerschale!“ Dazu setze ich einen erstklassigen Hunde-Blick auf.
Jetzt ist es an Suriyel zu überlegen, ob Akzeptanz angemessen ist – oder Widerspruch.
Er entscheidet sich für Akzeptanz. „Ja, gut. Wenn du das willst. Machen wir halt ein großes Rauchopfer.“
Alle am Tisch schauen erfreut. Anscheindend hat sich außer mir nur keiner getraut, Suriyel zu widersprechen.
Bevor wir im Tempel alles für das Rauchopfer vorbereiten, spüle ich mit einer Dharma-Schwester das schmutzige Geschirr. „Weißt du, das heute Totensonntag ist?“, fragt sie mich währenddessen.
„Nein, wusste ich nicht. Ich bin katholisch. Bei uns sind das Allerheiligen und Allerseelen. Die waren schon am 1. und 2. November.“
Die Dharma-Schwester versenkt den nächsten Suppenteller im Spülwasser. „Meine Mutter ist evangelisch. Der ist Totensonntag wichtig. Da rufe ich sie immer an.“
Auf dem Weg in den Tempel komme ich an einem Dharma-Bruder vorbei. Der steht im Flur und spricht besänftigtend ins Telefon.
Kurz darauf lässt er sich auf dem Meditationskissen zu meiner Rechten nieder. „Wusstest du, das heute Totensonntag ist?“
„Ja. Aber nur, weil es mir gerade gesagt wurde. Ich bin katholisch.“
Der Dharma-Bruder seufzt. „Ich habe es vergessen! Dabei ist meine Oma vor ein paar Wochen gestorben! Heute wurde im Gottesdienst ihr Namen verlesen, weil Totensonntag ist, und meine Mutter war ganz aufgelöst, weil ich nicht angerufen habe!“ Es ist dem Dharma-Bruder anzusehen, wie unglücklich er über die Situation ist.
Ich überlege, wie wir ihm beistehen können. „Sollen wir das Rauchopfer für deine Oma machen? Wo sie doch gerade gestorben ist?“
„Sie ist schon im August gestorben!“
Ja, gut, das ist deutlich länger als die 49 Tage, die Verstorbene im Bardo – dem Zwischenreich von Leben und Tod – verbringen. So wird es im tibetischen Buddhismus gelehrt. Außerdem praktiziert man für Verstorbene nicht Riwo SangChöd – das Rauchopfer, das wir gleich machen werden – sondern Sur. https://www.water-runs-east.eu/sur/
Egal! „Wir sind flexibel!“, erkläre ich dem Dharma-Bruder. „Wir können trotzdem Rauchopfer für deine Oma machen.“ Maktiel, die an der großen Trommel Platz genommen hat, lacht belustigt auf.
„Es ist eher… Meine Mutter…“
Der Dharma-Bruder macht sich erkennbar weniger Sorgen um die Wiedergeburt seiner Oma, als um das Wohlbefinden seiner Mutter. Es ist doch gut, dass wir kein Sur, sondern ein Riwo Sangchö machen werden, denke ich. https://www.water-runs-east.eu/rauch/
„Wie heißen denn deine Oma und deine Mutter?“
„Hildegard und Hannelore.“
Während wir über Oma und Mutter diskutieren, wurden die Vorbereitungen für das Rauchopfer abgeschlossen. Die Feuerschale, in der das Holz kunstvoll zu einem Turm aufgeschichtet ist, steht auf der Terrasse des Tempels. Davor sind auf einem Tischchen die Opfergaben aufgereiht.
Suriel zündet den Holzstoss an. Begleitet von lautem Knistern zucken die ersten Feuerzungen in die Höhe.
Dann kommt er zu uns und nimmt auf dem Meditationskissen zu meiner Linken Platz.
„Wir machen heute Sang für Hildegard und Hannelore! Das sind die verstorbene Oma und die Mama von …“, erkläre ich ihm. „Weil heute Totensonntag ist!“
Suriyel versteht erkennbar kein Wort. „Wir machen immer Sang für alle!“
„Für alle – und heute ganz besonders für Hildegard und Hannelore! Du musst es auch sagen, damit es wirkt!“
Suriyel weiß immer noch nicht, was gerade los ist, nickt aber ergeben. „Gut, dann machen wir heute Sang für alle und ganz besonders für Hildegard und Hannelore!“ Er kämpft hörbar mit den ungewohnten deutschen Namen.
„Weil Totensonntag ist.“
Das ignoriert er. Als Pole, denke ich, weiß er vermutlich nicht einmal was ‚Totensonntag‘ ist. „Das ist wie ‚Allerheiligen‘ und ‚Allerseelen‘ für Protestanten!“, schiebe ich schnell hinterher.
Auch das sagt ihm erkennbar nichts. Leider weiß ich nicht, wie die Feiertage auf Polnisch heißen.
Suriyel ist es egal. Er schlägt den Gong und stimmt das erste Sutra an. Während die Flammen in der Feuerschale höher und höher steigen und die Hitze die feuchten Terrassenbohlen dampfen lässt, nehmen wir Zuflucht, entwickeln Bodhichitta und laden die Gäste ein.
Die Buddhas, Bodhisattvas, Schützer, Dakinis, alle Naturgeister, Tiere, Menschen und alle anderen sichtbaren und unsichtbaren Wesen, mit denen wir in Verbindung stehen.
Und Hildegard und Hannelore…
Als wir bei der Opferung angekommen sind, steht Suriyel auf, geht zur Terrasse und wirft die Opfergaben in die Flammen.
Weißer Rauch steigt aus der Feuerschale auf und windet sich wie eine dicke Schlange in den grauen Herbsthimmel.
Auf Israfels Vorschlag hin singen wir, nachdem wir mit dem Rauchopfer durch sind, noch drei Mal das Dewa Chen Gebet für eine glückliche sofortige Wiedergeburt von Hildegard und Hannelore.
Hinterher sitzen alle auf ihren Kissen und sind geradezu betäubt vom Ritual. Nie zuvor haben wir ein solch perfektes Rauchopfer hinbekommen als das heutige am Totensonntag! Das Feuer, der Rauch, die Musik der Instrumente, unser Gesang – alles war genau so, wie es sein soll.
„Ich bin mir sicher, dass davon etwas bei deiner Oma und deiner Mutter angekommen ist!“, flüstere ich dem Dharma-Bruder zu meiner Rechten zu.
Der nickt. „Ganz sicher! Ich werde gleich meine Mutter anrufen und ihr sagen, dass wir für sie und Oma gebetet haben. Sie wird sich sehr darüber freuen!“ Damit steht er auf und eilt – sein Handy aus der Jackentasche ziehend – aus dem Tempel.
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