Das tibetisch-buddhistische Rauchopfer „Sur“ nährt alle Wesen, die sich im Bardo – dem Reich zwischen Leben und Tod – befinden…

Es muss irgendwann im Mai oder Juni passiert sein. Im Rückblick kann sich niemand mehr an den genauen Zeitpunkt erinnern.
Genauso wenig, wie an die Namen der Frau und des Mannes, die auf einmal im Tempel des Tibetisch-Buddhistischen Zentrums standen. https://www.water-runs-east.eu/das-buddhistische-zentrum/
Sie tauchten während der wöchentlichen Sonntagspraxis auf.
Still standen sie in einer Ecke und warteten geduldig, bis wir unsere „Grünen Tara“ Puja abgeschlossen hatten.
Ich sah sie aus den Augenwinkeln, während ich – gemeinsam mit den anderen aus der Sangha – den tibetischen Praxistext rezitierte. Die Frau war blaß, ihr Haar unfrisiert. Mit verkrampften Händen drückte sie ein verwaschenes kleines Kissen an ihre Brust. Der Mann hatte schützend den Arm um ihre Schulter gelegt. Auch er sah müde und verstört aus.
Nach dem Ende der Grünen Tara sprach das Paar Suriyel an. Eine nahe Angehörige der Frau war gestorben. Sie baten Suriyel um einen Segen für die Verstorbene. Die Frau drückte Suriyel das kleine Kissen in die Hand.
Er dürfe keinen Segen sprechen, erklärte er den beiden, er wäre kein Lama.
Glücklicherweise waren wir mit unserem Sonntagsprogramm noch nicht zu Ende: Das Riwo SangChö stand noch aus! https://www.water-runs-east.eu/riwo-sang-choed/
Geistesgegenwärtig lud Suriyel das Paar zum Rauchopfer ein. Nachdem wir alle im Halbkreis um die Feuerschale Platz genommen hatte, erklärte er in die Runde, dass wir das heutige Riwo SangChö der verstorbenen Anna widmen würden.
Was wir dann auch taten.
Nach der Zeremonie verschwanden die beiden Gäste. Sie verflüchtigten sich wie Rauch. Keiner hat sie seitdem wieder im Zentrum gesehen.
„Das hast du schön gemacht!“, lobte ich Suriyel hinterher. „Aber es war das falsche Ritual! Sie hätten Sur gebraucht!“

Denn Sur ist die Nachtschwester von Sang.
Beide Rauchopfer sind Ausdruck selbstloser Großzügigkeit.
Traditionell wird in den tibetisch-buddhistischen Klöstern jeden Morgen das Rauchopfer „Sang“ zelebriert. Unser RiwoSangChö ist nur eine von vielen Varianten. Alle Sang Rituale dienen der Anhäufung positiver Verdienste und gelten als Königsweg zur Beseitigung von Hindernissen und Widerständen, mit denen wir im Alltag konfrontiert sind.
Am Abend wird in den tibetisch-buddhistischen Klöstern traditionell das Rauchopfer Sur für alle Verstorbenen praktiziert, die sich gerade im Bardo befinden.
Der tibetisch-buddhistischen Tradition nach dauert der Aufenthalt im Reich zwischen Leben und Tod neunundvierzig Tage. Für die große Mehrheit der Wesen ist das Bardo kein angenehmer Ort: Gequält von schwer erträglichen Traumzuständen, in denen sie mit den karmischen Verstrickungen vergangener Leben konfrontiert werden, an Hunger, Durst und Kälte leidend, befinden sie sich in einer beklagenswerten Situation. Nicht jedem Wesen gelingt es zudem, nach neunundvierzig Tagen den Bardo zu verlassen und in den Kreislauf der Wiedergeburten zurückzukehren. Manche von ihnen sind so schwach und verwirrt, dass sie im Bardo gefangen bleiben.
Um diesen armen hilflosen Wesen zu helfen, wird Sur praktziert. Die heilige Kraft des Feuers verwandelt das Speiseopfer – bestehend aus Mehl und Heilkräutern – in nährenden Rauch. Dieser wird durch die kraftvolle Energie von Meditation, der Rezitation von Mantras und dem Einsatz von Mudras transformiert.
Der magische Rauch, der durch das Sur-Ritual entsteht, dient der Stärkung und Stabilisierung der körperlosen schwachen Wesen im Bardo. Beschenkt mit Kraft und Klarheit ist es ihnen früher oder später möglich, das Reich zwischen Leben und Tod zu verlassen und erneut wiedergeboren zu werden.

Suriyel weißt meinen Einwand, unser RiwoSangChö wäre das falsche Ritual für die trauernden Angehörigen, wie für die verstorbene Frau, gewesen, trotzdem zurück.
„Das Sang war nicht falsch. Das dient auch den Verstorbenen. Sur wäre nur besser gewesen.“
So sieht es auch Rinpoche – der Gründer und Leiter des Zentrums von Friedrichshain – als Suriyel ihn ein paar Wochen später um die Erlaubnis bittet, zusätzlich zum Sang auch noch ein regelmäßiges Sur im Tempel abhalten zu dürfen.
Suriyel solle sich auf das Sang konzentrieren. Ein weiteres Rauchopfer wäre nicht notwendig.
Wir hatten beide mit einer Absage gerechnet. Rinpoche – ein hoher tibetischer Lama – reist unermüdlich von Kontinent zu Kontinent, um in all seinen Tibetisch-Buddhistischen Zentren nach dem Rechten zu sehen. Unser Zentrum in Berlin ist nur eines von vielen. Dass Rinpoche weder Zeit noch Nerven dafür hat, aus der Ferne neben dem Dauerkonflikt um unser Sang auch noch den Ärger um unser Sur in seinem Zentrum in Berlin zu befrieden, ist uns beiden nachvollziehbar. https://www.water-runs-east.eu/rauch/
Als Suriyel mit die Entscheidung des Rinpoche übermittelt, bin ich trotzdem enttäuscht. Suriyel wohl auch. Obwohl er es nicht zugibt.
Aber so ist es nun mal. Kein Sur im Tibetisch-Buddhistischen Zentrum von Friedrichshain…
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